Kolumne: Wlada in Russland
Wenn ich meinen deutschen Freunden erzähle, dass ich durch mein Heimatland backpacken will, klopfen sie mir anerkennend auf die Schultern. Die meisten Russen klopfen sich an den Schädel, als Zeichen dafür, wie hohl meine Birne ist.
Die Augen des Bärtigen scannen mich von Kopf bis Fuß. Ich glaube, er überlegt, in welcher Sprache er mich ansprechen soll. Ich habe einen riesigen Rucksack auf den Schultern: Das würde keine Russin tun. Dazu trage ich bei neun Grad ein kurzes Kleid: Das würde keine Ausländerin machen. Ballerinas an den Füßen: Ausländerin. Blaue Kulleraugen: Russin. Keine Wimperntusche: Ausländerin. Dunkelblonder Pferdeschwanz: Russin. Vermutlich entscheidet die vierstöckige Buttercrémetorte in meiner Hand - hier ein übliches Gastgeschenk, aber nichts für ausländische Mägen. Der Autofahrer sagt auf Russisch: "Junge Frau, darf ich an Ihnen saugen?"
Ich bin so baff, dass ich vergesse, Angst zu bekommen. Und wenn ich darüber nachdenke, ist seine Frage durchaus berechtigt: Ich rieche wie eine Bar und aus meinem Rucksack tropft Hochprozentiges. Die Whiskeyflasche und das deutsche Bier - ebenfalls Gastgeschenke - überlebten den Transport von "Rossiya Airlines" nicht.
Bekleidet mit meiner einzigen trockenen Klamotte, friere ich am leeren Taxistand am Murmansker Flughafen. Es ist 3 Uhr morgens, aber taghell: Die Sonne geht hier von Mitte Mai bis Mitte Juli nicht unter. Murmansk ist die größte arktische Stadt und einer der nördlichsten Siedlungen Russlands. Es ist die zweite Station meiner Reise.
"War nur ein Spaß. Bin ja am Steuer." Der Bärtige hat viele Lachfältchen um die Augen und ein Buch des Philosophen Slavoj Žižek auf dem Beifahrersitz. Ich nenne die Adresse, schmeiße den Whiskey-marinierten Rucksack auf die Rückbank, wickele mich in die Decke aus seinem Kofferraum und fange an, meine Geschichte zu erzählen.
Damit breche ich alle Regeln gleichzeitig, die mein russischer Vater noch vor wenigen Stunden diktierte: Fremden misstrauen. Nicht Lächeln. Auf keinen Fall die Wahrheit über meine Reise erzählen. Die Menschen hier würden das nicht verstehen.
Vermutlich hat mein Vater Recht: Ich habe das Gefühl, dass ich die einzige Russin bin, die Russland bereisen möchte. Muttersprachige Reiseliteratur ist dürftig, selbst die heimischen Foren empfehlen den Lonely Planet.
Wenn ich meinen deutschen Freunden erzähle, dass ich durch mein Heimatland backpacken will, klopfen sie mir anerkennend auf die Schultern. Die meisten Russen klopfen sich an den Schädel, als Zeichen dafür, wie hohl meine Birne ist. Mein Vater klopfte sich zuerst an seinen Kopf und dann an meinen. Dann fragte er, ob er mich davon abbringen kann, wenn er mir eine Reise durch Laos und Kambodscha bezahlt.
Konnte er nicht. Nach dem Studium wollte ich endlich das Land kennenlernen, in dem ich geboren worden war und die Hälfte meines Lebens verbracht hatte. Russland stellt zwar meinen Pass aus, ist für mich aber fernes Ausland, dessen Sprache ich zufällig spreche.
Meine Mutter und ich wohnen seit zwölf Jahren in Deutschland. In Russland kenne ich nur vier Städte: Nikel und Schtschokino, in denen ich als Kind wohnte, Sotschi, wo wir immer Ferien machten, und St. Petersburg - wo ich geboren wurde und wo mein Vater und meine Oma leben. Dort besuche ich sie einmal im Jahr für ein, zwei Wochen.
Diesmal ist St. Petersburg aber nur meine Startstation. Mein Vater hat mich vom Flughafen geholt und mich drei Tage später wieder dort abgeladen, vollgepackt mit Überlebensratschlägen und Omas Sirniki - eine Art Quarkkeulchen.
"Mit dem Rucksack durch Russland!", stöhnte mein Vater zum Abschied. "Pah! Du schaffst es nicht einmal zu deiner zweiten Station! Du kannst dich nicht vordrängeln! Du kannst nicht brüllen! Du kannst nicht schmieren!", schrie er.
Seine Sorgen sind ein bisschen berechtigt: Ich habe den Flieger nach Murmansk verpasst. Weil ich mich nicht anstellen könne, sagt mein Vater. Die Frau am Schalter fand mich nicht und schickte uns zur Kasse, die uns zur Information schickte, die uns zurück zum Check-in-Schalter schickte, der uns wieder zur Kasse schickte.
Jedes Mal stellte ich mich hinten an. Mein Vater packte mich und schob mich direkt zum Anfang der Schlange. Er installierte seine 100 kg Körpermasse zwischen mir und dem passwedelnden Mob und hielt mit ausgestreckten Armen die Position. Ich zeichnete währenddessen meine Bestätigungsnummer mit dem Zeigefinger in der Luft - denn vor Aufregung und Scham brachte ich russische, deutsche und englische Buchstabennamen durcheinander.
Die Dame an der Kasse blieb unbeeindruckt: "Der Flug ist in drei Minuten weg. Schaffen sie eh nicht mehr", sagte sie teilnahmslos. "Beschwerden an die Zentrale." Erst als mein Vater sie anschrie, reservierte sie mir den morgigen Flug. Mein Vater brüllte noch ein bisschen mehr, damit sie mich auf den letzten heutigen Flug buchte, dessen Check-in seit zehn Minuten vorbei war. Es klappte. Zu meiner größten Verwunderung.
Danach bot mein Vater mir noch einmal die Asienreise an. Ich lehnte erneut ab. Diesmal aber nicht ganz so überzeugt. Dass man mit Lautstärke nicht weiterkommt, habe ich seit dem Konfliktmanagementkurs in der siebten Klasse verinnerlicht.
Ich glaube an Schlangestehen und elektronische Tickets. Ich trinke Wasser aus der Leitung, was kein Russe tun würde. Ich lerne gern Menschen auf der Straße kennen. Bisher hat die Welt ganz gut nach diesen Spielregeln funktioniert. Kriege ich es hin, neue zu lernen?
Ich fühle mich so deutsch, dass ich manchmal meinen russischen Pass vergesse. Nur wenn ich mich vorstelle, werde ich an meine Herkunft erinnert - weil ich jedes Mal erklären muss, woher mein Name stammt und wie man ihn schreibt.
Als ich nach Deutschland kam, tat ich alles, um zu vergessen, wo ich herkomme. Mit zwölf macht es keinen Spaß, anders zu sein. Ich hätte die rechte Hand für einen Nachnamen gegeben, den ich nicht bei jeder Gelegenheit fünfmal buchstabieren muss, und die linke für irgendeine deutsche Stadt als Geburtsort, egal welche, von mir aus auch Bottrop.
Auch später versuchte ich zu vertuschen, dass ich meine ersten Jahre in einem anderen Land verbracht habe. Ich las dreimal "Generation Golf", weil ich glaubte, dass ich so etwas über die deutsche Kindheit lernen könnte. Ich schrieb Karteikarten, damit ich mitreden kann. "Capri-Sonne", stand drauf, "Mini-Playback-Show", "Wicki und die starken Männer". Ich habe sogar einmal in meinem Leben "Wetten, dass…?" angeschaut und mir Stichpunkte gemacht.
Erst heute ist das Anderssein zu einem Wert geworden. Was früher Stigma war, ist heute Alleinstellungsmerkmal.
Die Jahre der Verleugnung gingen trotzdem nicht spurlos vorbei. Meine russische Entwicklung ist mit zwölf stehengeblieben. Ich kann nicht knurren, wie mein russischer Vater. Ich wurde erwachsen, mein Wortschatz nicht. Wenn ich mit meiner Mama auf Russisch rede, bleibt Lohnsteuererklärung Lohnsteuererklärung, Versicherung Versicherung, Pille Pille. Ich liebe russische klassische Literatur, kann aber noch nicht einmal eine E-Mail mit russischen Buchstaben schreiben - auf der kyrillischen Tastatur verirren sich meine Finger.
Zumindest meine Menschenkenntnis funktioniert noch. Der bärtige Sascha raubt mich nicht aus, sondern schleppt sogar meinen Rucksack zur Wohnungstür von meiner Murmansker Gastgeberin Nastja. Wir kennen einander nicht, meine einzige russische Freundin Anja hat mich an sie vermittelt. Nastja hat schon den Tee aufgesetzt und die Blini - russische Pfannkuchen - warm gemacht. Obwohl es mitten in der Nacht ist, blieb sie auf, um mich zu empfangen.
Sie umarmt mich, ich bringe den üblichen Vorstellungsspruch: "Hi. Ich bin Wlada. Wie das russische Auto Lada, bloß mit W vorne dran." Dann fällt mir ein: Hier muss ich das niemandem erklären.